Das Spiel der Könige

 

Es sitzen zwei, die Stirn in Falten,

an einem Tisch mit Uhr und halten

ein Treffen ab für tiefe Denker

und spieltriebstarke Schlachtenlenker.

 

Dazwischen stehen Holzfiguren

als schwarz und weiße Miniaturen

von Völkern, die aus welchen Gründen

auch immer sich im Krieg befinden.

 

Und wie bei Zwisten zwischen Reichen

kommt es wie üblich auch zu Leichen,

die jäh, nachdem den Tod sie fanden

in einer engen Kiste landen.

 

Die Spieler folgen Strategien,

nach denen sie die Steine ziehen

und hüllen sich im Zügereigen

bedeutungsschwer in tiefes Schweigen.

 

Man will den andern zwar zerstören,

doch soll er seinen Tod nicht hören.

Der Weiße täuscht, er trickst und heuchelt

gern Unschuld vor, bevor er meuchelt.

 

Dann zieht er plötzlich voller Tücke

mit fiesem Grinsen eins der Stücke.

Er ruft laut „Schach“ und will verschlagen

dem Gegnerkönig an den Kragen.

 

Der Schwarze ächzt. Streicht er die Segel?

Mitnichten! Er pocht auf die Regel:

„Dein Turm kann dieses Schach nicht geben!

Denn du hast deinen Läufer eben

 

zuerst berührt mit deinen Pfoten,

Drum ist das Turmschach jetzt verboten!“

Berührt, geführt! Die Regelwerke

sind jenseits jedes Spielers Stärke

 

die eisernen und manchmal kalten

Statuten, und die einzuhalten,

ist nicht nur Pflicht. Es ist die hehre

Voraussetzung der Spielerehre.

 

Doch statt den Turm zurückzunehmen

und sich zum Läufer zu bequemen,

verneint der Weiße sein Vergehen

und poltert: “Das war ein Versehen!

 

Dass ich den einen Stein berührte,

bevor ich meinen zweiten führte,

kannst du mir nicht, das ist zum Lachen,

mit vollem Ernst zum Vorwurf machen.

 

Dass du jetzt meckerst, stört mich wenig.

Es bleibt beim Schach! Schütz deinen König!“

Der andre tobt und schreit: „Mitnichten!

Du Tunichtgut der Spielerpflichten!

 

Willst du nicht bald den Läufer rücken,

muss ich dich mit der Faust beglücken

und statt dein „Schach!“ zu tolerieren,

dein Auge veilchenblau verzieren!“

 

„Das wagst du nicht!“ Der Regelbrecher

greift jäh vom Tisch den Kaffeebecher,

um seinen sturen Kontrahenten

mit Mitte Vierzig zu verrenten.

 

Die Faust schießt vor, doch auch die Tasse

trifft mit dem Schwung der Steingutmasse

nach treffgenauem Anvisieren

ihr Ziel, um dieses zu planieren.

 

K.o.! Die beiden Streiter wanken

und donnern schmerzvoll auf die Planken.

Der Tisch, er kippt. In hohem Bogen

kommt jäh das Brett herangeflogen

 

und knallt dem Regelwerkbanausen

auf Haupt, wo die Synapsen hausen.

Der Schwarze grölt. Er wirkt fast manisch,

und steht kaum auf, da glotzt er panisch,

 

tritt mit dem rechten seiner Schuhe,

leicht schräg auf die Figurentruhe,

rutscht aus und knallt nochmal mit Krachen

voll aufs Parkett mit hundert Sachen.

 

Ihm dröhnt der Kopf, der Gegner wimmert,

weil sich sein Dröhnen auch verschlimmert.

Statt endlich langsam abzuklingen,

scheint es durch Mark und Bein zu dringen.

 

So liegen beide da und sehen

im Chaos ihrer Holzarmeen

so aus, als hätten sie begriffen:

Hat man beim Schach das Schwert geschliffen,

 

gilt dies auch bei Extremnaturen

des Jähzorns nur für die Figuren,

doch nicht für die, die diese führen,

und hinterlistig Zwietracht schüren.

 

Wenn zwei voll Wut, wie hier zu sehen,

wie Stiere in den Schachkampf gehen,

dann heißt das für die Antipoden

statt Kampf und Sieg leicht Hosenboden.

 

Es ist gewiss, die Schachspielregel

verlangt den Edlen, und der Flegel

mit Geifer, Zorn und lautem Fluchen,

der hat am Schachbrett nichts zu suchen.

 

Ein echter Kerl am Brett der Bretter

ist fair, korrekt und auch ein Netter,

und das gilt auch (trotz aller Dramen)

für alle schachaffinen Damen. 

 

Sollst du am Brett ums Leben zittern,

dann nur vor wahrhaft edlen Rittern

und nicht vor üblen Brettgenossen

mit ihren Spielverderber-Possen.

 

Musst du auch mal mit schrägen Käuzen

beim Schachspiel deine Klingen kreuzen,

dann braucht’s zur Fairness oft nicht wenig,

doch krönt sie dich zum zweiten König.

 

Autor: Thomas Spiekermann